80 Jahre nach der Befreiung: Buchenwald konfrontiert Vergangenheit und Gegenwart
Am 6. und 7. April 2025 versammelten sich Überlebende, politische Führungspersönlichkeiten und Nachkommen am Standort des Konzentrationslagers Buchenwald in Thüringen, um des 80. Jahrestages seiner Befreiung zu gedenken. Einst ein Symbol des Nazi-Terrors, ist Buchenwald heute zu einem Ort der Reflexion geworden – nicht nur über die Verbrechen der Vergangenheit, sondern auch über den Zustand der modernen Demokratie, den weltweiten Aufstieg rechtsextremer Ideologien und die Herausforderungen für Institutionen, die mit der Bewahrung der historischen Erinnerung beauftragt sind.
Das 1937 gegründete Lager Buchenwald beherbergte bis 280,000 über 1945 Menschen. Darunter waren Juden, Roma, politische Gegner, Homosexuelle und andere Opfer des Nazi-Regimes. Rund 56,000 Menschen wurden im Lager ermordet. Nach der Befreiung durch US-Truppen am 11. April 1945 wurde es kurzzeitig zu einem sowjetischen Internierungslager, wo weitere 7,000 Menschen unter den harten Nachkriegsbedingungen starben.
Heute befinden sich auf dem einst überwucherten Gelände die Fundamente des berüchtigten Kleinen Lagers, Krematorien, Einrichtungen für medizinische Experimente und das ikonische Tor mit dem zynischen Slogan „Jedem das Seine“ – eingefroren in der Zeit um 3:15 Uhr, der Stunde der Befreiung.
Die schwindenden Stimmen der Überlebenden und der Kampf um historische Klarheit
Nur eine Handvoll Überlebender nahmen an der diesjährigen Zeremonie teil, verglichen mit Hunderten vor nur zwei Jahrzehnten. Unter ihnen war der 100-jährige Albrecht Weinberg, der nach einem Aufenthalt in den USA nach Deutschland zurückkehrte und in den letzten Jahren mit jungen Menschen über den Holocaust sprach.
Weinbergs Botschaft war klar: Schweigen ermöglicht Ungerechtigkeit. Im Januar gab er aus Protest gegen die von CDU und AfD unterstützte Einwanderungsgesetzgebung sein Bundesverdienstkreuz zurück. „Junge Menschen dürfen keine Angst haben, zu sagen, wenn etwas falsch ist“, sagte er.
Angesichts der schwindenden Zahl der Überlebenden setzen Gedenkbemühungen zunehmend auf digitale Dokumentation und Aufklärung der Öffentlichkeit. Jens-Christian Wagner, Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, betonte die wachsende Verantwortung der Gesellschaft, die Wahrheit zu bewahren. „Wir alle sind für die Erinnerung verantwortlich – jeder einzelne Bürger“, erklärte er.
Rechtsextreme Zugewinne lösen bei der Führung und den Verantwortlichen der Gedenkstätte Alarm aus
Wagner äußerte sich ernsthaft besorgt über das politische Klima in Thüringen, wo die rechtsextreme Alternative für Deutschland (AfD) kürzlich 38.6 % der Stimmen erhielt – mehr als in jedem anderen Bundesland. Die AfD kritisierte wiederholt die deutsche Erinnerungskultur und forderte ein Ende der ihrer Ansicht nach übermäßigen Betonung der NS-Geschichte.
Wagner warnte, dass in AfD-Kreisen die Nazi-Verbrechen systematisch verharmlost und Geschichtsrevisionismus aktiv verbreitet werde. Er beschrieb die Region als „Zentrum des Sturms“ und bezeichnete die Erosion der demokratischen Normen der Nachkriegszeit als „äußerst besorgniserregend“.
Bei der Zeremonie verstärkte auch der ehemalige deutsche Bundespräsident Christian Wulff die Warnungen. Er verglich das heutige weltpolitische Klima mit den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg und sagte, der Aufstieg des Rechtspopulismus führe zu „Brutalisierung und Radikalisierung“ und schüre in weiten Teilen der deutschen Gesellschaft Angst.
„Die Ideologie der AfD schafft eine Atmosphäre der Unsicherheit“, sagte Wulff und forderte die Bürger auf, demokratische Werte zu verteidigen. „Das Böse darf nie wieder die Oberhand gewinnen.“
Soziale Medien in der Kritik wegen der Verbreitung von Extremismus
Wagner sprach auch über die Rolle moderner Technologien bei der Verbreitung von Desinformation und Hass. In einem Interview mit dem MDR bezeichnete er soziale Medien als die „Plage des 21. Jahrhunderts“ und warnte, dass Plattformen wie TikTok, Instagram, X (ehemals Twitter) und Facebook zu mächtigen Werkzeugen geworden seien, um Gesellschaften von der liberalen Demokratie abzuwenden.
Diese Ansicht wird auch von Angehörigen der Gesundheitsberufe geteilt. Rainer Thomasius, Jugendpsychiater am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, verglich die neurologischen Auswirkungen der Social-Media-Sucht auf Jugendliche mit denen von Alkohol oder Cannabis und beschrieb sie als eine drohende psychische Krise.
Israelischer Druck löst Kontroverse an Gedenkstätte aus
Die Zeremonie wurde zudem von politischen Konflikten mit der israelischen Regierung überschattet. Wenige Tage zuvor wurde dem deutsch-israelischen Philosophen Omri Boehm auf Druck des israelischen Botschafters die Einladung als Redner entzogen.
Boehm, dessen Großvater den Holocaust überlebte und der die israelische Regierung kritisierte, wurde von der Botschaft beschuldigt, den Holocaust zu relativieren. Die Organisatoren der Gedenkstätte verteidigten ihre Entscheidung mit der Begründung, man habe sie getroffen, um zu vermeiden, dass Überlebende in einen polarisierenden Streit hineingezogen werden.
Wagner kritisierte den Druck von außen als beispiellos. „So etwas habe ich noch nie erlebt und möchte es auch nie wieder erleben“, sagte er. Regierungssprecher Wolfgang Büchner bekräftigte später, die Erinnerungsinstitutionen in Deutschland müssten frei von politischer Einflussnahme bleiben.
Erinnerung in Zeiten globaler Krise
Der Jahrestag fällt in eine Zeit, in der viele Demokratien mit inneren Spannungen konfrontiert sind. Vom wachsenden Nationalismus in Europa bis hin zu autoritärem Einfluss aus dem Ausland – die Lehren aus Buchenwald seien aktueller denn je, sagen Vertreter der Gedenkstätte.
„Die Gewissheiten der Nachkriegsjahrzehnte sind brüchig geworden“, sagte Wagner. Er verwies auf das politische Umfeld, das von Persönlichkeiten wie Donald Trump und Wladimir Putin geprägt wurde, und warnte, dass liberale Demokratien zunehmend zwischen polarisierenden Kräften gefangen seien.
Trotz Drohungen, Vandalismus und persönlichen Risiken setzen Wagner und sein Team ihre Arbeit fort. Die Memorial Foundation betont, dass Erinnerung nicht nur eine symbolische Geste ist, sondern eine aktive gesellschaftliche Verantwortung, demokratische Strukturen zu schützen, Extremismus zu bekämpfen und die historische Wahrheit zu bewahren.