Gericht entscheidet, dass Pushbacks an der Grenze gegen EU-Recht verstoßen
In einem wegweisenden Urteil hat das Berliner Verwaltungsgericht die neue Praxis der Bundesregierung, Asylsuchende ohne ordnungsgemäßes Verfahren an der Grenze zurückzuweisen, für rechtswidrig erklärt. Die Entscheidung folgte auf die Eilbeschwerden dreier somalischer Staatsbürger, denen trotz ihrer erklärten Absicht, Asyl zu beantragen, die Einreise verweigert worden war. Rechtsexperten und Menschenrechtsorganisationen bezeichnen das Urteil als schweren Rückschlag für die umstrittene Einwanderungspolitik der Bundesregierung, die Anfang Mai eingeführt wurde.
Asylbewerber am Bahnhof Frankfurt (Oder) abgelehnt
Am 9. Mai kamen zwei Männer und eine Frau aus Somalia mit dem Zug aus Polen an und wurden am Bahnhof Frankfurt (Oder) von der Bundespolizei abgefangen. Obwohl sie einen formellen Asylantrag gestellt hatten, wurde ihr Asylantrag nicht nach dem Dublin-Verfahren der Europäischen Union bearbeitet, sondern noch am selben Tag nach Polen zurückgeschickt.
Dieses Vorgehen verstieß laut Gericht gegen etablierte EU-Verfahren. Die Dublin-Verordnung schreibt vor, dass Asylanträge auf EU-Gebiet zunächst in einem dafür vorgesehenen Verfahren geprüft werden müssen, um festzustellen, welcher Mitgliedstaat für den Antrag zuständig ist. Deutschland ist verpflichtet, dieses Verfahren einzuleiten und abzuschließen, bevor eine Rückführung oder Überstellung in Betracht gezogen wird.
Rechtsexperten: Entscheidung war zu erwarten
Juristen waren von der Intervention des Gerichts nicht überrascht. Philipp Pruy, Spezialist für europäisches Asylrecht, erklärte, die Umgehung des Dublin-Verfahrens verstoße eindeutig gegen EU-Rechtsstandards. Er verwies auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs aus dem Jahr 2023 (C-143/22), das bekräftigte, dass Mitgliedstaaten Asylanträge an den Binnengrenzen der EU nicht ablehnen dürfen, ohne die erforderlichen Verfahren einzuleiten.
Pruy betonte, dass Asylsuchenden, die auf dem Land-, See- oder Luftweg in die EU einreisen, unabhängig von ihrem Einreiseort Zugang zu den entsprechenden Rechtsmechanismen gewährt werden müsse. „Das Dublin-Verfahren zu überspringen und Menschen sofort zurückzuschicken, widerspricht dem verbindlichen europäischen Recht“, erklärte er.
Die Politik von Innenminister Dobrindt steht unter Beschuss
Das Urteil des Gerichts stellt die Notstandspolitik infrage, die Bundesinnenminister Alexander Dobrindt wenige Stunden nach seinem Amtsantritt am 7. Mai eingeführt hatte. Dobrindt hatte in seiner Anweisung verstärkte Grenzkontrollen und die autorisierte Zurückweisung von Asylsuchenden aus anderen EU-Staaten gefordert und diese Maßnahme als notwendig zum Schutz der öffentlichen Ordnung dargestellt.
Die Regierung versuchte, ihre Entscheidung mit Artikel 72 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union zu rechtfertigen. Dieser erlaubt es den Mitgliedstaaten, sich im Falle einer schwerwiegenden Bedrohung der öffentlichen Sicherheit über EU-Recht hinwegzusetzen. Beamte führten die hohe Zahl der in Deutschland gestellten Asylanträge – fast ein Viertel aller Asylanträge in der EU im vergangenen Jahr – als Beweis für die systemische Belastung an.
Das Berliner Gericht wies diese Begründung jedoch zurück und erklärte, die Regierung habe weder eine unmittelbare Bedrohung nachgewiesen noch erklärt, wie sofortige Zurückweisungen an der Grenze eine solche Situation entschärfen würden. Das Gericht stellte zudem die mangelnde Abstimmung mit den Nachbarstaaten, insbesondere Polen, fest und betonte das EU-Prinzip der „loyalen Zusammenarbeit“, das die Mitgliedstaaten zur Zusammenarbeit verpflichtet, bevor sie einseitige Maßnahmen ergreifen.
Eurodac-System und rechtliche Verpflichtungen ignoriert
Das Gericht wies die Argumente der Bundespolizei zurück, dass die Präsenz früherer Registrierungen in der EU-Fingerabdruckdatenbank Eurodac für eine summarische Rückführung ausreiche. Stattdessen betonten die Richter, dass diese Daten lediglich die Grundlage für das Dublin-Verfahren bildeten, es aber nicht ersetzten. Die Asylbewerber hätten in ein Aufnahmezentrum in Deutschland überstellt und dort formell bearbeitet werden müssen, bevor eine Rückführung in Betracht gezogen werden könne.
Nach dem Asylverfahren kann Deutschland erst dann eine Überstellung beantragen, wenn im Rahmen der Dublin-Verordnung festgestellt wurde, dass ein anderes Land zuständig ist. Die Überstellung muss dann eine Frist zur freiwilligen Ausreise oder einen offiziellen Ausweisungsbescheid enthalten. Im Fall der somalischen Antragsteller wurde keiner dieser Schritte befolgt.
Der politische Druck steigt
Die Entscheidung löste im gesamten politischen Spektrum heftige Reaktionen aus. Clara Bünger von der Linkspartei forderte Dobrindts sofortigen Rücktritt und warf ihm vor, wissentlich gegen das Gesetz verstoßen zu haben. Die Grünen schlossen sich diesen Forderungen an und bezeichneten die Bundespolitik als „nationalen Alleingang“, der die EU als Rechtsunion untergrabe.
Britta Haßelmann, Ko-Vorsitzende der Grünen-Bundestagsfraktion, warnte, die Umgehung der EU-Asylmechanismen schade nicht nur bedürftigen Menschen, sondern beschädige auch Deutschlands Glaubwürdigkeit in Europa. Die Parlamentarische Staatssekretärin Irene Mihalic bezeichnete das Urteil als „klare Warnung“ an die Regierung, sich strikt an rechtliche Standards zu halten.
Auch die Gewerkschaft der Polizei (GdP) äußerte von Anfang an Skepsis an der Rechtmäßigkeit der Regelung. Andreas Roßkopf, Leiter der Bundespolizeiabteilung der GdP, bekräftigte, sofortige Zurückweisungen an der Grenze seien stets rechtlich fragwürdig und begrüßte die Klarstellung des Gerichts.
Gerichtsentscheidung gilt sofort und kann nicht angefochten werden
Das Urteil des Berliner Verwaltungsgerichts ist rechtskräftig und endgültig. Nach Angaben von Gerichtsbeamten kann die Regierung keine Berufung einlegen. Das Urteil macht nicht nur die im somalischen Fall getroffenen Maßnahmen ungültig, sondern schafft auch einen Präzedenzfall, der viele ähnliche Fälle beeinflussen könnte.
Die Nichtregierungsorganisation Pro Asyl, die die Kläger unterstützte, bezeichnete das Urteil als einen möglicherweise historischen Sieg für die Flüchtlingsrechte. Sprecher Karl Kopp forderte die Bundesregierung auf, alle Zurückweisungen an der Grenze sofort einzustellen und das Dublin-Verfahren wieder einzuführen.
Fragen zur künftigen politischen Ausrichtung bleiben bestehen
Trotz der Gerichtsentscheidung behaupten einige Regierungsvertreter, das Verfahren sei noch nicht abgeschlossen. Heiko Teggatz, Vorsitzender einer anderen Polizeigewerkschaft, betonte, der Fall befinde sich derzeit in einem Eilverfahren und der Prozess könne zu einem anderen Ergebnis führen. Dennoch gehen Rechtsexperten davon aus, dass die strukturellen Mängel der Regelung einer weiteren Prüfung wahrscheinlich nicht standhalten werden.
Da die Regierung zunehmend unter Druck steht, ihre Strategie aufzugeben oder radikal zu überarbeiten, richten sich alle Augen auf die Reaktion von Innenminister Dobrindt. In der Zwischenzeit müssen die Grenzbehörden ihre Vorgehensweise anpassen, um im Rahmen des EU-Rechts zu bleiben.