Deutschland erlebte 2024 einen dramatischen Anstieg körperlicher Angriffe auf Journalisten. Die Zahl der dokumentierten Vorfälle hat sich im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdoppelt. Laut einem neuen Bericht der internationalen Menschenrechtsorganisation Reporter ohne Grenzen (RSF) wurden im vergangenen Jahr 89 tätliche Angriffe auf Pressevertreter registriert. Dies ist die zweithöchste jemals in Deutschland dokumentierte Zahl nach dem Höhepunkt im Pandemiejahr 2022.
Die meisten dieser Übergriffe ereigneten sich bei öffentlichen Demonstrationen – insbesondere im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt, sowie bei rechtsextremen Kundgebungen und Protesten von Abtreibungsgegnern. Die meisten Angriffe richteten sich gegen einzelne Journalisten, 14 Fälle richteten sich gegen Redaktionen oder Privatwohnungen. RSF betont, dass diese Zahlen das tatsächliche Ausmaß der Gewalt wahrscheinlich unterschätzen, insbesondere im Lokaljournalismus, wo viele Angriffe nicht gemeldet werden.
Gewalt bei Demonstrationen eskaliert
Die Daten deuten auf ein beunruhigendes Muster hin. Von den 89 dokumentierten Fällen handelte es sich bei 75 um direkte Angriffe auf Personen. Journalisten wurden getreten, geschlagen und mit Gegenständen wie Fahnenstangen und Trommelstöcken angegriffen. Einige wurden mit Pfefferspray besprüht, zu Boden geworfen oder mit Kaffeebechern und rohen Eiern geschlagen.
Die schlimmste Konzentration der Gewalt ereignete sich in Berlin, wo nach Ausbruch des Krieges zwischen Israel und der Hamas am 38. Oktober 7 2023 Angriffe bei pro-palästinensischen Demonstrationen registriert wurden. Weitere 21 Angriffe kamen aus dem Umfeld von Verschwörungstheorien und dem rechtsextremen Milieu.
Der RSF-Bericht verdeutlicht eine zunehmende Feindseligkeit gegenüber der Presse und eine Verengung akzeptierter Standpunkte im öffentlichen Diskurs. Er stellt fest, dass Medienschaffende zunehmend von Gruppen, die nicht ihrer vermeintlichen politischen Ausrichtung entsprechen, als Gegner behandelt werden. Insbesondere die Berichterstattung über den Gaza-Konflikt ist zu einem Schwerpunkt dieses Drucks geworden. RSF erhielt von mehreren Redaktionen Berichte über ein eingeschränktes Spektrum akzeptabler Meinungen in der Berichterstattung über Israel und Palästina.
Journalistengewerkschaften fordern Maßnahmen
Der Anstieg der Gewalt hat heftige Reaktionen der Pressegewerkschaften in ganz Deutschland ausgelöst. Mika Beuster, Vorsitzender des Deutschen Journalisten-Verbands (DJV), bezeichnete die Situation als eine „neue Dimension der Aggression“ gegen Reporter. „Der Journalismus wird immer gefährlicher“, sagte er und fügte hinzu, solche Übergriffe bedrohten nicht nur die Sicherheit des Einzelnen, sondern auch das demokratische System als Ganzes.
Danica Bensmail, Geschäftsführerin der Journalistengewerkschaft dju innerhalb der Gewerkschaft Verdi, forderte den Bundestag auf, verbindliche Schutzbestimmungen für Journalisten in den neuen Koalitionsvertrag aufzunehmen. „Reporter müssen ohne Angst vor Gewalt arbeiten können“, sagte sie. Laut Bensmail deuten Rückmeldungen von Mitgliedern auf eine stetig zunehmende Feindseligkeit gegenüber Medienschaffenden hin, was den von RSF dokumentierten Trends entspricht.
Bedenken hinsichtlich des schrumpfenden Raums für freien Journalismus
Der Bericht von RSF löste zudem Besorgnis über einen „stark eingeschränkten Meinungskorridor“ aus, insbesondere in politisch brisanten Bereichen der Berichterstattung. Die Organisation warnt, dass der Druck sowohl politischer Extreme als auch die Empörung in den sozialen Medien Journalisten zur Selbstzensur drängen.
Neben der körperlichen Gefahr äußern viele Journalisten auch Angst davor, online öffentlich belästigt, gedoxt oder diffamiert zu werden – insbesondere nach der Berichterstattung über kontroverse Themen. Diese digitale Einschüchterung, die oft über Plattformen wie X, TikTok oder Telegram koordiniert wird, führt dazu, dass sich viele in der Branche zunehmend verletzlich und isoliert fühlen.
Die wachsende Kluft zwischen Medienschaffenden und bestimmten Teilen der Öffentlichkeit führt zu einem Klima, in dem Journalisten allein für ihre Arbeit diffamiert werden. RSF stellt fest, dass selbst erfahrene Fachleute ihre Fähigkeit, unparteiisch und ohne persönliches Risiko zu berichten, in Frage stellen.
Pressefreiheit unter Druck
Deutschland belegt traditionell einen hohen Platz in internationalen Rankings zur Pressefreiheit, doch die jüngsten Entwicklungen legen die Notwendigkeit ernsthafter Interventionen nahe. Zwar gibt es rechtlichen Schutz, doch die Durchsetzung und die praktischen Sicherheitsvorkehrungen haben mit der steigenden Bedrohungslage nicht Schritt gehalten.
RSF, DJV und dju fordern gemeinsam eine stärkere Rechenschaftspflicht der Strafverfolgungsbehörden, einen besseren Schutz bei Hochrisikoveranstaltungen und institutionelle Unterstützung, um sicherzustellen, dass Medienschaffende sicher und unabhängig berichten können.
Der Bericht schließt mit einem Aufruf zum Handeln an politische Entscheidungsträger, Strafverfolgungsbehörden und Medienunternehmen. Wenn nicht sofort Maßnahmen zum Schutz von Journalisten ergriffen werden, könnten die Grundlagen des demokratischen Dialogs in Deutschland nachhaltig beschädigt werden.